Wesentliche Merkmale des ursprünglichen Bauplans der Muscheln sind die links und rechts den Weichkörper lateral umschließenden flügelartigen Klappen aus Calciumcarbonat (Aragonit und/oder Calcit), die mit einem Schloss verbunden sind, das ein schnelles und sicheres Verschließen ermöglicht und die Klappen in der Lage stabilisiert. Daneben erhöhen Faltungen und "Rippen" die Festigkeit der Schalen.
Die Morphologie der Muschelschale umfasst einen makroskopischen und einen mikroskopischen Teil, die beide Hinweise auf Verwandtschaften geben können. Dabei sind möglichst Kombinationen von Eigenschaften zu betrachten, da einzelne Gemeinsamkeiten zufällig oder durch die Lebensweise begründet sein können.
Vergleichbar sind die fest verbundenen lateralen Schalen der Rostroconchia (Foto 10.80), die wie die Muscheln zu den Mollusken gehören. Einige aberrante Formen der Muscheln erinnern an Schnecken. Ähnlich sind die dorsoventralen Schalen der Brachiopoden oder die lateralen Schalen der Ostrakoden, die ganz andere Tiergruppen bilden.
Bei den rezenten Bivalvia dienen die Ausbildung der Kiemen (protobranchiat, filibranchiat, eulamellibranchiat, septibranchiat), die Schale, das Genom, die Ontogenese und die Lebensweise als wichtige Merkmale für die Klassifikation. Bei den fossilen Formen stehen oft nur Abdrücke der Schale beziehungsweise mehr oder weniger umkristallisierte Schalen zur Verfügung.
Die makroskopischen Eigenschaften der Schale sind in der ungefähren Rangfolge ihrer Bedeutung für die Klassifikation der Bivalvia beispielsweise folgende:
Ausbildung des Schlosses: actinodont, taxodont, heterodont, pachy(o)dont, isodont, dysodont und andere;
Lage und Form des Ligamentansatzes: intern, extern und andere;
Schließmuskelansätze: homomyar, heteromyar, anisomyar, monomyar;
Mantellinie: integripalliat, sinupalliat;
äußere Gestalt: flügelartig, dreieckig, oval, rund, gleiche oder unterschiedliche Klappen (Schalen) beziehungsweise Seiten, dünnschalig oder dickschalig, flach oder aufgebläht, Skulptur, Farbe und viele andere.
Die mikroskopische Untersuchung von Dünnschliffen der Schalen mit dem Polarisationsmikroskop erlaubt weitere Aussagen über die Taxonomie. Charakteristisch ist eine schichtförmige Anordnung der Carbonate. Nach der Lage werden bezeichnet:
Periostrakum: die äußere organische Schicht;
Ostrakum: die äußere carbonatische Schicht darunter;
Hypostrakum: die innere carbonatische Schicht;
Myostrakum: Schließmuskelansätze der Schale.
Der anorganische Teil der Schalen besteht entweder ganz aus Aragonit oder aus Calcit und Aragonit in wechselnden Verhältnissen. In wärmerem Wasser wird von gleichen Arten relativ mehr Aragonit gebildet. Bei den Bivalvia sind etwa sieben verschiedene Schichtgefüge bekannt, die entsprechend der Zugehörigkeit zu den Familien einzeln oder kombiniert auftreten (siehe auch Uwe Kraeft, Carbonate als Baustoffe von Lebewesen, (1989), NATURSTEIN 44, S. 468 – 475):
Perlmuttschicht aus winzigen Aragonit-Plättchen, die in Lagen oder übereinander gestapelt auftreten;
Blätterschicht aus blätterartig verbundenen Calcit-Leisten;
Prismenschicht aus polygonalen Säulen, die aus Aragonit oder Calcit bestehen;
gekreuzte Lamellen (g. L.) und komplex gekreuzte Lamellen aus gegeneinander geneigten Aragonit-Kristallaggregaten;
homogene Schicht aus winzigen Aragonit-Kristallen mit ähnlicher Orientierung;
Myostrakum aus prismatischem Aragonit im Bereich der Schließmuskelansätze vieler Bivalvia.
Für die Erklärung der Begriffe sei im deutschen Sprachbereich beispielsweise auf folgende Lehrbücher hingewiesen:
Alfred Kaestner u. a., Lehrbuch der speziellen Zoologie, div. Bände und Auflagen, Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg;
Arno Hermann Müller, Lehrbuch der Paläozoologie, 3 Bd., 7 Tl., div. Aufl., (1985-1994), Dr. Friedrich Pfeil, Wissenschaftlicher Verlag, München.
Das Referenzwerk in englischer Sprache ist:
Raymond C. Moore (Editor), Treatise on Invertebrate Paleontology, Part N, Mollusca 6, Bivalvia, (1969), The Geological Society of America and The University of Kansas.
Zu den mikroskopischen Eigenschaften der Schale gibt es folgende zusammenfassende Darstellung:
J. D. Taylor, W. J. Kennedy & A. Hall, The Shell Structure and Mineralogy of the Bivalvia, (1969, 1973), Bulletin of the British Museum (Natural History), London, Supplement 3 and vol. 22 no. 9.
Daneben existieren viele weitere Lehrbücher, Monographien und zahlreiche wissenschaftliche Einzeluntersuchungen. Die Veröffentlichungen im Sammlerbereich zeigen daneben zum einen die Vielfalt der Arten und bieten zum anderen wertvolle Hinweise über deren Verbreitung.
Die Klassifikation der Bivalvia wird durch den Schalenaufbau in den Grundzügen bestätigt; es ergeben sich aber auch Fragen. Von Taylor, Kennedy & Hall (siehe oben) wurden an einigen ausgewählten Spezies folgende Schichten bestimmt (hier vereinfacht dargestellt):
Taxon Carbonatphase Außenschicht Mittelschicht Innenschicht
Nuculacea Aragonit Prismen Perlmutt Perlmutt
Nuculanacea Aragonit homogen homogen
Solemyacea Aragonit Prismen homogen
Arcacea Aragonit gekreuzte Lamellen komplex g. L.
Limopsacea Aragonit gekreuzte Lamellen komplex g. L.
Mytilacea Calcit, Aragonit Perlmutt, prism. Calcit Perlmutt verschieden
Pinnacea Calcit, Aragonit Calcit-Prismen Perlmutt
Pteriacea Calcit, Aragonit Calcit-Prismen Perlmutt Perlmutt
Pectinidae Calcit, Aragonit Blätterschicht gekreuzte Lamellen Blätterschicht
Spondylidae Calcit, Aragonit Blätterschicht gekreuzte Lamellen g. L. u. a.
Plicatulidae Calcit, Aragonit Blätterschicht gekreuzte Lamellen g. L.
Anomiacea Calcit, Aragonit Blätterschicht komplex g. L.
Limacea Calcit, Aragonit Blätterschicht (gekreuzte Lamellen) g. L. u. a.
Ostreacea Calcit, Aragonit (Prismen) Blätterschicht
Unionacea Aragonit Prismen u. a. (Perlmutt) Perlmutt
Trigoniacea Aragonit Prismen Perlmutt Perlmutt
Lucinacea Aragonit Prismen gekreuzte Lamellen komplex g. L.
Leptonacea Aragonit gekreuzte Lamellen komplex g. L.
Cyamiacea Aragonit homogen homogen
Carditacea Aragonit gekreuzte Lamellen komplex g. L.
Crassatellacea Aragonit gekreuzte Lamellen verschieden
Cardiacea Aragonit gekreuzte Lamellen komplex g. L.
Tridacnacea Aragonit gekreuzte Lamellen komplex g. L.
Mactracea Aragonit gekreuzte Lamellen komplex g. L.
Solenacea Aragonit gekreuzte Lamellen verschieden
Tellinacea Aragonit Prismen u. a. (gekreuzte Lamellen) verschieden
Arcticacea Aragonit verschieden verschieden
Dreissenacea Aragonit gekreuzte Lamellen komplex g. L.
Glossacea Aragonit verschieden komplex g. L.
Corbiculacea Aragonit gekreuzte Lamellen komplex g. L.
Veneracea Aragonit g. L., Prismen u. A. (g. L., homogen) verschieden
Myacea Aragonit g. L., homogen (gekreuzte Lamellen) komplex g. L.
Pholadacea Aragonit verschieden (gekreuzte Lamellen) komplex g. L.
Pandoracea Aragonit Prismen, homogen Perlmutt verschieden
Poromycea Aragonit Prismen, homogen (Perlmutt) verschieden
Danach zeigen sich zunächst gleichartig und deutlich ungleichartig aufgebaute Taxa. Zwischen den Taxa sind beispielsweise deutliche Unterschiede im Schalenaufbau der Nuculacea, Nuculanacea und Arcacea beziehungsweise Limopsacea zu beobachten, wobei sich die Schichten der beiden letzteren ähneln. Ähnlich sind auch die Arcacea, Limopsacea, Leptonacea, Carditacea, Cardiacea, Tridacnacea, Mactracea, Dreissenacea und Corbiculacea oder andere. Weitere Taxa ähneln sich beispielsweise in den äußeren Schichten, wie zum Beispiel die Pectinidae, Spondylidae und Plicatulidae.
Dünnschliffe im Polarisationsmikroskop, gekreuzte Polarisatoren
Brachiopoda: Bivalvia: Terebratulidae Tridacnacea
Bivalvia: wie oben, Spondylidae stärker vergrößert
Über die molekularbiologische Verwandtschaft der Bivalvia gibt es folgende zusammenfassende Darstellung:
Sabine E. Hammer, Molekulare Phylogenie der pteriomorphen Bivalvia (Mollusca), (2001), Dissertation, Institut für Zoologie, Universität Wien.
Die dort aufgeführten umfangreichen Ergebnisse stellen eine bedeutende Bereicherung in der Suche nach einer Klassifikation und einem Stammbaum der Bivalvia dar. Allerdings fehlt die zeitliche Einordnung. Die Mytiloida sind beispielsweise erst ab dem Devon bekannt; die Pterioida sind dagegen eine viel ältere Gruppe mit einem charakteristischen flügelartigen Erscheinungsbild, die seit dem Ordovizium bekannt ist.
Ohne weiter auf Details einzugehen muss eine Klassifikation alle Merkmale berücksichtigen, das heißt neben dem inneren Aufbau (Kiemen, Muskeln, Ligament, Mantelsaum), der äußeren Form mit dem Schloss und dem Schalenaufbau auch die Ontogenese und die molekularbiologischen Erkenntnisse.
Unter Verwendung der Ergebnisse von Hammer (S. 64, 91) und des Schalenaufbaus nach Taylor, Kennedy & Hall sowie der Definition der Taxa und ihrer zeitlichen Einordnung des „Treatise“ (s. oben) ergibt sich zum Beispiel das nachfolgende Diagramm (bessere Auflösung siehe Fotos 11).
Wenn Abb. 35 F von Hammer um 90° gedreht wird, ergibt sich folgendes:
Die Mytilacea haben mit dem „Block 1“ (Pinnacea, Pteriacea, Ostreacea) sowie dem „Block 2“ (Pectinacea, Limacea, Anomiacea) und den Arcoida einen gemeinsamen Ursprung. Da die Mytilacea erst im Devon in Erscheinung treten, könnte eine Stammform unter den frühen Pterineidae gesucht werden. Jedenfalls ist der Schalenaufbau der Mytilacea mit dem der Pinnacea und Pteriacea vergleichbar.
Die Pinnacea haben mit den Pteriacea und Ostreacea eine gemeinsame Herkunft, die ebenfalls unter den frühen Pteriacea gesucht werden kann. Die Ostreacea könnten zum Beispiel von den Bakevelliidae abstammen.
Der gemeinsame Ursprung von „Block 2“ mit einem ähnlichen Schalenaufbau kann beispielsweise bei den Leiopectinidae und Aviculopectinidae liegen.
Die Klassifikation des „Treatise“ würde sich damit nur geringfügig ändern. Die Mytiloida müssten gelöscht und deren Superfamilien Mytilacea und Pinnacea zu den Pterioida gestellt werden. Falls die Arcoida in die Nähe der Pectinacea rücken, könnten letztere mit den Limacea und Anomiacea zu den Pectinoida zusammengefasst werden.
Für die Mytilacea wurde auch eine Herkunft von den Ambonychiacea (F. Frech, Die devonischen Aviculiden Deutschlands, (1891), Abh. zur geol. Specialkarte von Preussen ..., Bd. IX, Heft 3, S. 206 und Tabelle am Schluss) beziehungsweise den Modiomorphidae (Treatise N 1, S. 285) diskutiert. In der Tat sieht Mytilarca sp., die im Treatise und von späteren Autoren zu den Ambonychiacea gestellt wird, Mytilus sp. äußerlich ähnlich. Hier ergibt sich aber auch die Frage, ob Mytilarca sp. oder Modiomorpha sp. nicht eher zu den Pteriacea gehören?
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